Vinzenz Brendler1, Madlen Stockmann2, Thomas Nagel3
1Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf e.V.
2BGE Bundesgesellschaft für Endlagerung mbH
3TU Bergakademie Freiberg
Ein verbessertes Verständnis und die begründete Einbeziehung von Ungewissheiten sind ein wichtiger Aspekt bei der numerischen Modellierung des Radionuklidtransportes im Nah- und Fernfeld potenzieller Endlager für radioaktive Abfälle in tiefen geologischen Formationen. Die wesentlichsten hier diskutierten Anwendungsfelder beziehen sich auf die quantitativen Analysen des Radionuklidtransportes und der Integrität der verschiedenen Barriere-Komponenten. Dieses Kapitel geht nicht auf Ungewissheiten ein, welche auf unterschiedlichen Szenarien in der Entwicklung eines Endlagers basieren. Hier kann jedoch auf die Kapitel 5 und 13 des Reports zur NBEA MESA Initiative (Nuclear Energy Agency, 2012), die Teilberichte D2.2.C.1, M2.2.C.2, M2.2.C.3 und D.3.1.1. des PAMINA Projektes oder einen Bericht der OECD-NEA Integration Group for the Safety Case (Nuclear Energy Agency, 2015) verwiesen werden. Ein weiterer Spezialfall, der hier nicht weiter abgehandelt wird, ist die näherungsweise Überführung semi-quantitativer oder rein qualitativer Aussagen zu Ungewissheiten in numerische Werte(bereiche), z.B. unter Nutzung der Fuzzy-Theorie (Bandemer & Gottwald, 1995).
Eine im Bereich der Endlagerung häufig genutzte Definition von „Ungewissheiten“ ist das komplette oder partielle Fehlen objektiver (Existenz) oder subjektiver (Wissen) Informationen (Nagra, 2019), das in Zweifeln an ermittelten Ergebnissen führt, genauer gesagt Zweifeln an der Gültigkeit von Konzepten, Methoden, Messungen und Parametern.
Eine verlässliche, nachvollziehbare, intern konsistente und umfassende Betrachtung aller wesentlichen Ungewissheiten meint nicht nur deren Quantifizierung, sondern auch gegenseitige Abhängigkeiten sowie Zuordnungen zu verschiedenen Kategorien (siehe unten). Von besonderem Interesse ist hier, ob sie aleatorisch oder epistemisch sind (mit den entsprechenden Konsequenzen für ihre weitere Bewertung, hierin folgend Spiessl & Becker, 2017 sowie Nagra, 2019) und in welchem Stadium der Endlagersuche, -planung und -errichtung sie spätestens eine Rolle spielen.
Verschiedene internationale Projekte und Institutionen haben sich bereits der Thematik von Ungewissheiten im speziellen Kontext der Endlagerung radioaktiver Abfälle gewidmet; hier seien nur exemplarisch die OECD-Nuclear Energy Agency (Nuclear Energy Agency, 2019) und PAMINA (Galson & Khursheed, 2007; Galson & Richardson, 2009) genannt. Eine weitere wichtige Initiative ist die Joint Sensitivity Analysis (JOSA) Group (Swiler, et al., 2021). Schließlich sei hier noch auf Ergebnisse aus der EURAD Strategic Study „Uncertainty Management multi-Actor Network – UMAN“ (Brendler & Pospiech, 2022) sowie das BGE-geförderte Projekt „Uncertainties and Robustness with regard to the Safety of a repository for high-level radioactive waste – URS“ (Kurgyis et al., 2024) verwiesen.
Es ist von großem Interesse, realistisch ableitbare Fehlergrenzen für alle wichtigen Zielfunktionen im Rahmen von Langzeitsicherheitsbetrachtungen zukünftiger Endlagersysteme zu gewinnen. Unter Einbeziehung realistischer Ungewissheiten ist es möglich, auf reaktiven Transportmodellen und THM Modellen aufbauende Langzeitsicherheitsuntersuchungen nicht nur zu parametrisieren, sondern sie auch zu qualifizieren, d.h. die Verlässlichkeit der resultierenden Aussagen zu bewerten. Herausforderungen sind hierbei die Komplexität der Fragestellungen und deren Abdeckung breiter Skalenbereiche in Raum und Zeit. Ein wissenschaftlich fundierter Umgang mit Ungewissheiten ist nicht nur eine entscheidende Voraussetzung, um ein Endlagersystem mit den besten Sicherheitslösungen zu finden, sondern auch, um das Verständnis und die Unterstützung der Gesellschaft im Allgemeinen und insbesondere der regional und lokal direkt betroffenen Bevölkerung zu gewinnen.
An dieser Stelle sei angemerkt, dass eine grobe Unterteilung zwischen Bottom-up- (BU) und Top-down- (TD) Modellierungsstrategien einschließlich der Behandlung von Ungewissheiten vorgenommen werden kann, wie dies bei vielen komplexen Anwendungsfällen in Wissenschaft und Gesellschaft auch jenseits der Endlagerung radioaktiver Abfälle zu beobachten ist. Während ein Bottom-up-Ansatz auf dem detaillierten Verständnis von Prozessen aufbaut, konzentriert sich ein Top-down-Ansatz auf die Integration von Systemkomponenten. Typische Einschränkungen der BU Strategie sind die enorme Menge an Details (z.B. mehr als 200 Parameter, die vom OECD/NEA Crystalline Club allein für die Bewertung der Wirtsgesteinseigenschaften für Kristallin im Sicherheitsfall erhoben werden). Aus Sicht der bewertenden Modellierung erschwert dies nicht nur die Parametrisierung, sondern erfordert auch viel Rechenzeit. TD Strategien hingegen können mit einer großen Anzahl unsicherer Parameter oft einfacher umgehen, möglicherweise aber Effekte höherer Ordnung übersehen und nicht alle interessierenden Parameter-Räume abdecken. Regelmäßig werden BU-Ansätze verwendet, um generische Parameter bereitzustellen, die von TD-Modellen verlangt werden, die in der Regel auf einer eher groben Ebene beginnen und dann iterativ verfeinert werden. Ein herausragendes Beispiel ist die Behandlung der Sorption in allen drei Phasen des OECD/NEA Sorptionsprojekts (Ochs et al., 2012). Daher ist es ratsam, beide Philosophien mit ihren spezifischen Stärken und Schwächen zu kennen. Je nach Anwendungsbereich innerhalb des RWM können die gegenseitigen Beziehungen zwischen BU und TD und ihr jeweiliges Gewicht variieren.
Für komplexe Systeme kann eine Hierarchie von Modellen, die oft iterativ verfeinert werden müssen, erforderlich sein (Nuclear Decommissioning Authority, 2013). BU-Modelle skalieren eindeutig mit der Dimensionalität. Da es sich jedoch häufig um recht begrenzte, gut ausgearbeitete Teilmodelle für bestimmte Phänomene / Parameter-Räume handelt (grundlegende Prozesse, bei denen den Modellen weitgehend vertraut werden kann, da sie auf gesicherten Grundlagen beruhen), kann dieser Ansatz dennoch erfolgreich auf sie angewendet werden. So wirken sich beispielsweise Vergletscherung, Permafrost, Meerwassereintritt und andere geologische Prozesse direkt auf die Eigenschaften der obersten Schichten über einem geologischen Endlager aus. Daher sind deterministische "Was-wäre-wenn"-Szenarien eine Möglichkeit, sie zu behandeln. Aber jedes dieser Szenarien kann natürlich von konventionellen probabilistischen Berechnungen für die verbleibenden, unveränderten Teile des Gesamtmodells profitieren, d.h. nicht nur für das Nahfeld, sondern auch für größere Teile des Wirtgesteins und in einigen Szenarien sogar für Teile des Deckgebirges.
Der BU Ansatz nutzt darüber hinaus das Detailwissen und das Prozessverständnis auf mechanistischer Ebene. Dies fördert nicht nur die öffentliche Akzeptanz von spezifischen Sicherheitsfällen. Es ermöglicht auch, viele Parameter bereits in einem frühen Stadium der Modellentwicklung und -prüfung als gering-sensitiv[1] zu erklären und damit das Problem der Dimensionalität wirksam zu verringern. Daher ist die Kombination von TD und BU häufig die geeignetste Methode zur Behandlung von Ungewissheiten, sowohl im Hinblick auf die effiziente Nutzung von Ressourcen als auch auf die Zuverlässigkeit und Angemessenheit der Ergebnisse. Eine umfassende Darstellung einer solchen TD/BU-Kombination für den Fall der Bewertung des Grundwasserpfads findet sich in Abb. 7 des NDA-Berichts 153 (Nuclear Decommissioning Authority, 2017).
[1] Ein Parameter ist gering-sensitiv, wenn dessen Schwankung in Raum und Zeit in einem plausiblen, maßgeblichen Bereich die betrachteten Antwortgrößen nur wenig beeinflusst. Aus diesen Größen abgeleitete Aussagen sind somit robust gegenüber Schwankungen der Eingangsparametrisierung dieser gering-sensitiven Größen.
Die vorliegende Arbeit wäre nicht entstanden ohne die Initiative seitens der Bundesgesellschaft für Endlagerung mbH (BGE), in persona Wolfram Rühaak, welcher auch viele wertvolle Anregungen zum Text selbst gab.